Namen unbekannt: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Namen unbekannt: Roman' von Sanora Babb
4.5
4.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Namen unbekannt: Roman"

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:304
EAN:9783150114711

Rezensionen zu "Namen unbekannt: Roman"

  1. Ein trauriges Stück amerikanischer Geschichte

    Sanora Babb (1907 – 2005) ist eine der Autorinnen, die der Verlag mit seiner Serie „Reclams Klassikerinnen“ dem Vergessen entreißt. In diesem Fall ist es besonders tragisch, dass „Namen unbekannt“ nicht etwa in seinem Entstehungsjahr 1939 erschien, sondern erst im Jahr 2004 erstveröffentlicht wurde. Der berühmte John Steinbeck hatte sich nämlich des Themas für „Früchte des Zorns“ etwa gleichzeitig wie Sanora Babb angenommen. Am Ende war Steinbeck einfach etwas schneller damit fertig, so dass anschließend kein Verlag mehr Babbs Manuskript veröffentlichen wollte. Dass Steinbeck zudem über einen Dritten Zugang zu Babbs umfangreichen Recherchenotizen erhalten hat, ist eine weitere traurige Wahrheit und zeigt auf, wie männerbezogen der Literaturbetrieb damals gewesen sein muss.

    Sanora Babb schreibt über Dinge, die sie selbst erlebt hat. Das spürt man deutlich. Selten habe ich menschliche Nöte und nagenden Hunger so authentisch erlebt wie durch diesen Roman. Familie Dunne betreibt einen Milch- und Ackerbaubetrieb in den High Plains in Oklahoma. Die 1930er Jahre sind angebrochen, die Lage der Menschen hat sich bereits durch die Weltwirtschaftskrise deutlich verschlechtert. Die kleine Farm der Dunnes ist verschuldet, notwendige Ausbauten verschieben sich ständig, die letzten Ernten waren mager und reichten kaum zur Deckung der Kosten, das Land leidet unter fortgesetzter Dürre. Hinzu kommen unsägliche, von Menschenhand gemachte Staubstürme, die Pflanzen, Flächen und Häuser unter sich begraben und Mensch wie Tier das Atmen erschweren. Dazu ist es erbärmlich heiß.

    Die Farmer sind am Limit, auch wenn sie ihr Land lieben. Banken machen Druck. Das Schicksal des Einzelnen interessiert niemanden. Man spürt den nagenden Hunger, den Staub in jeder Ritze, den Mangel, die heißen Winde. Die Farmer sind hart im Nehmen. Zunächst jammern sie wenig, sondern suchen Lösungen, sie schaufeln Äcker wieder frei, befeuchten Ställe und unterstützen sich gegenseitig. Doch alles ist vergeblich, die Umstände sind erdrückend. Nachbarn mit besserer finanzieller Ausstattung harren aus, andere gehen fort oder nehmen sich das Leben. Auch Familie Dunne entschließt sich schweren Herzens, den Landstrich zu verlassen. Im fruchtbaren Kalifornien werden angeblich Erntehelfer gebraucht, die gut entlohnt werden sollen. Der weite Weg dorthin ist strapaziös und kostet die letzten Reserven. Am Ziel angekommen, werden die Dunnes unter menschenunwürdigen Bedingungen in Camps gepfercht. Das Überangebot an Wanderarbeitern lässt die Löhne purzeln, die Menschen werden vielfältig ausgenutzt, der blanke Hass der Kalifornier schlägt ihnen zudem entgegen, mit „Okies“ will niemand etwas zu tun haben. Sie sind sprichwörtlich vom Regen in die Traufe gekommen.

    Atmosphärische Beschreibungen beherrscht die Autorin glänzend. Mit ihrem vielfältigen Figurenpotpourri koloriert sie die unterschiedlichen Lebensumstände mit grenzenloser Empathie zu jedem einzelnen Schicksal. Jeder Figur haucht sie Leben und Persönlichkeit ein. Die Dialoge empfinde ich als realitätsnah und lebensecht. Es dauert eine ganze Weile, bis Familie Dunne den Glauben an den Mythos vom amerikanischen Traum, den Glauben daran, dass man nur hart und ehrlich arbeiten muss, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, verliert.

    Der Roman liest sich unglaublich fesselnd. Insbesondere der umfangreichere erste Teil („Der Oklahoma Panhandle“), der das Farmleben beschreibt, besticht durch seine facettenreichen Schicksale. Die Verbindung zwischen Handlung und Atmosphäre gelingt perfekt. Im zweiten Teil („Kalifornien“) tritt der Roman ein bisschen auf der Stelle. Die Schauplätze wechseln zwar auf dem Weg von Orangen-, zu Pfirsich- oder Baumwollernte, die existentiellen Probleme bleiben aber nahezu gleich, was die Aussichts- und Machtlosigkeit der Menschen im Angesicht der Mächtigen unterstreicht. Sanora Babb hat sich stark politisch engagiert, was man diesem Teil des Buches anmerkt. Die Zustände waren jedoch exakt so prekär, wie sie gezeigt werden. „Namen unbekannt“ beschreibt, wie der Einzelne in der Masse ähnlicher Schicksale untergeht. Es ist ein deprimierendes Buch, das sich an die historisch belegten Tatsachen hält und daher kein Happyend zulässt.

    Ich habe diesen Roman ebenso gerne gelesen wie seinerzeit „Früchte des Zorns“ und bin dem Reclam Verlag sehr dankbar für die Wiederentdeckung dieser wunderbaren Erzählerin. Das atmosphärische, liebevoll gestaltete Cover stimmt bestens auf die Lektüre ein. Die gelungene Übersetzung stammt von Sabine Reinhardus. Mareike Fallwickl hat ein äußerst informatives Nachwort beigesteuert, in dem der Leser Hintergründe zu Leben und Werk der Autorin erfährt, aber auch Fakten über die damals menschengemachte Staubsturmkatastrophe. Insofern bedient der Klassiker durchaus aktuelle und leider zeitlose Themen.

    Große Leseempfehlung!

  1. Von menschengemachten Katastrophen

    Oklahoma, in den 1930er-Jahren: Milt und Julia Dunne leben gemeinsam mit ihren beiden Töchtern und Milts Vater in einer ärmlichen Unterkunft. Zwar bessert sich ihre Situation etwas, als sie sich auf den Anbau von Winterweizen spezialisieren, doch immer wieder macht ihnen die Trockenheit einen Strich durch die Rechnung. Während die Sonne unnachgiebig brennt, leiden die Menschen zudem unter verheerenden Staubstürmen, die nicht nur die Ernte vernichtet, sondern auch Mensch und Tier krank macht. Als Julia und Milt diese Situation nicht mehr aushalten, entschließen sie sich, ihr Glück als Wanderarbeiter:innen in Kalifornien zu versuchen. Großvater Konkie bleibt gemeinsam mit Grund und Boden zurück...

    "Namen unbekannt" ist ein Roman der US-Amerikanerin Sanora Babb (1907 - 2005), der Ende der 1930er-Jahre mit dem Originaltitel "Whose Names Are Unknown" entstand und sage und schreibe bis 2004 auf seine Erstveröffentlichung warten musste. Der Grund ist kurios: Ihre Notizen für den Roman teilte ihr damaliger Vorgesetzter mit John Steinbeck, der kurzerhand daraufhin seinen Welterfolg "Früchte des Zorns" schrieb. Babbs Romanprojekt wurde aus diesem Grund 1939 bei Random House beerdigt. Auch wenn ihr der Ruhm dadurch entging, so konnte sie sich im Krankenbett im stolzen Alter von 97 Jahren doch noch über die Veröffentlichung freuen. Nun ist der Roman in der Reihe "Reclams Klassikerinnen" in der deutschen Übersetzung von Sabine Reinhardus bei Reclam erschienen. Es handelt sich dabei um das erste Werk Babbs überhaupt, das auf Deutsch erschienen ist.

    Schon das Cover, das auf einer berühmten Fotografie von Arthur Rothstein basiert, wirkt ungemein berührend. Es zeigt einen Farmer mit seinen beiden Kindern im Staubsturm vor einer ärmlichen Behausung und passt ganz hervorragend zum Ton des Romans. Denn "Namen unbekannt" ist ein im Grundton trauriges Buch, das sich vor allem mit den Themen Armut und Hunger beschäftigt, aber auch mit menschengemachten Katastrophen. Die erwähnten Sandstürme sind nämlich kein Zufall oder Schicksal. Sie entstanden, weil die Farmer:innen vor allem auf Monokulturen - in diesem Fall den Anbau von Weizen - setzten und das von der indigenen Bevölkerung geraubte Land nicht mit dem nötigen Respekt ihrer Vorgänger:innen behandelt. Im informativen und ungewöhnlich emotionalen Nachwort von Mareike Fallwickl bezeichnet diese Babbs Schreiben nicht nur als "nature writing", sondern "eco-critism", bevor dieser überhaupt existierte.

    Und tatsächlich sind die Stellen, an denen Sanora Babb das Land und die Natur beschreibt, auch die stärksten. Fast scheint man, den Staub zu schmecken, die Hitze zu spüren. Ebenfalls spürbar ist die große Empathie, die Babb ihren Figuren entgegenbringt. Und es ist kein Wunder, dass sie sich so in Julia und das umfangreiche Ensemble hineinfühlen kann. Schließlich ist Babb selbst in Armut und als Farmerstochter aufgewachsen und kümmerte sich später während der Großen Depression als Sozialarbeiterin um in Not geratene Farmer:innen.

    Nicht ganz so stark sind hingegen die Figurenkonzeption und der Handlungsaufbau. Die Handlung verläuft nämlich recht monothematisch. Zwar gibt es immer mal wieder wechselnde Schauplätze und Figuren, doch im Grunde dreht sich alles um Armut und Arbeit. Das ist einerseits verständlich, andererseits bewies gerade vor einem Monat mit Maria Leitners "Hotel Amerika" ein anderer Roman aus der Reihe "Reclams Klassikerinnen", dass man eine ähnliche Thematik auch viel dynamischer aufbereiten kann. Und trotz des von Fallwickl angesprochenen feministischen Grundtons bleibt mit Julia Dunne ausgerechnet die wichtigste Frauenfigur überraschend blass. In den ersten zwei Dritteln des Buches zeigt sie sich zwar grundsympathisch, doch man hat das Gefühl, sie sei ständig am Kochen, Stricken und Waschen. Da gibt es insbesondere im Teil, der in Kalifornien spielt, viel stärkere weibliche Charaktere. Etwas unglücklich wirkt auch, dass bei Julia eine erlittene Fehlgeburt psychologisch kaum eine Rolle spielt, sondern sie eher dem verkauften Klavier hinterher trauert. So ist es ihr Mann Milt, der um den Verlust des Kindes weint.

    Insgesamt ist "Namen unbekannt" rein sprachlich, aber auch wegen der Aktualität der menschengemachten Klimakatastrophen ein würdiger Vertreter der Reclam-Reihe. Ein kleines Ärgernis ist, dass im ersten Drittel des Romans das Korrektorat ein wenig geschlampt und doch einige "das/dass"-Fehler übersehen hat. Es ist zu hoffen, dass weitere Werke Sanora Babbs ihren Weg ins Deutsche finden werden.